Ein unkluger Gründer, der beschloss, seine Seelenwerkstatt zu öffnen.
Referat von Pfr. i. R. Kurt Faulhaber beim Oktobertreffen in der Pilgerkirche in Schönstatt am 16. Oktober 2020
I KENTENICHKRISE
Auseinandersetzung erwünscht
Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, von unserem Vater zu hören, der Visitator Tromp habe eine Sendung gegenüber Schönstatt ausgeübt. Dann setzt Alexandra von Teuffenbach diese Sendung P. Tromps fort nach über einem halben Jahrhundert. Das ist im Interesse unseres Vaters. Die Kämpfe damals waren für ihn erst der Anfang![1] Er hat in seinen letzten Lebensjahren auf den Augenblick gewartet, in dem die befriedeten Auseinandersetzungen neu aufbrechen würden, ja, er wollte sie „heraufbeschwören“. „Morgen, übermorgen“ noch nicht, sagte er unserem Kurs vier Wochen vor seinem Tod.[2] Jetzt – nach Jahrzehnten – scheint das „Übermorgen“ vorbei.
Warum hat er nach dem Exil stillgehalten? Er erlebte die Schönstattfamilie nach seiner Rückkehr für nicht reif für eine Fortsetzung der Kämpfe. Sie müsste erst „innerlich umgewandelt“ werden, vor allem erst wieder geeint werden. Sind wir heute umgewandelter? Geeinter? Stellen wir uns vor: Bischof Bätzing würde Bischof Gerber bitten: Kannst du mir bis zur nächsten Sitzung schriftlich besorgen, wie Schönstatt zu den Themen der Synode denkt? Fänden wir eine gemeinsame Antwort? Oder würden verdeckte Bruchlinien selbst in den einzelnen Gemeinschaften zutage treten? Oder will uns unser Vater durch Angriffe von außen geeinter machen? Wenn heute das Kindesexamen der Schwestern angegriffen wird, dann muss jeder von uns hier Rede und Antwort stehen. Das kann einen.
Was angegriffen wird, das will Gott zum besonderen Thema machen. Ein Leitsatz unseres Vaters. Jetzt haben wir unser Thema! Die Zeit, da Schönstatt von den Autoritäten der Kirche gestreichelt sein möchte, scheint vorbei. Unser Vater, so scheint es, möchte uns hineinführen ins Mitstreiten in all den Streitfragen, die die Kirche jedenfalls in Deutschland umtreiben und sich wohl noch zuspitzen dürften und Fragen an die Weltkirche sind.
Damals fragte er P. Menningen: „Alex, gehst du mit?“ Heute fragt er uns: „Meine Schönstattfamilie, gehst du mit?“
Wir fragen: wohin? Was hat unser Vater vor mit dem erneuten Streit um seine Person? Wie könnte unser Mitgehen aussehen?
Es war damals ein Ringen unseres Vaters mit der Kirche um ihren Weg. Dieses Ringen will er fortsetzen. Denn in der Kirche insgesamt ist ein heftiges Ringen um ihren Weg entbrannt.
„Schönstatt für die Kirche!“
„Dilexit Ecclesiam“ lesen wir, sooft wir am Sarkophag unseres Vaters stehen. Es geht nicht primär um Schönstatt, es geht um die Kirche. Als unser Vater sich mit den deutschen Bischöfen und mit den römischen Stellen anlegte, setzte er die Existenz Schönstatts aufs Spiel. So sehr sah er die Kirche in Gefahr, dass er bereit war, Schönstatt zu opfern. Was er einst in der Bedrohung durch die Nazis formulierte, das betete er jetzt angesichts der Ablehnung durch die Kirche: „Willst du dieses Kind mir nehmen … Willst du es tot in meinen Armen sehn … Nimm hin das Kind, … sein kommendes Geschick…“
Damit ist er über die Stufe „Alles für Schönstatt!“ hinausgegangen auf die Stufe: „Schönstatt für die Kirche!“ Diesen Schritt gilt es für uns wieder und wieder nachzuvollziehen.
Gegenstand des Angriffs: Vater-Kind-Beziehung
Was also wurde und wird angegriffen, damit wir es zu unserem Thema, unserer Aufgabe machen?
P. Kentenich wird heute erneut beschuldigt des „systematischen Machtmissbrauchs und sexuellen Missbrauchs in einem Fall“. So hätten schon die Visitatoren in ihren Berichten nach Rom „das Bild eines hochgradig manipulativen, die Schwestern in ihrer Gewissensfreiheit planmäßig behindernden Gründers“ gezeichnet.[3]
Was steht als Realität hinter dieser Verzeichnung? Dass Pater Kentenich sich durch und durch und rundum als Vater gab und sich als Vater erleben ließ, dass er Emotionen und affektive Bindungen an seine Person nicht nur zuließ, sondern bejahte, förderte und pflegte, und das alles aus der Erfahrung heraus, dass diese Emotionen und Bindungen sich in seiner Person auf Gott den Vater übertragen und dadurch eine vitale Gott-Vater-Erfahrung und eine unlösliche Bindung an Gott wachsen. Und dass dabei in den Menschen Kindheitserfahrungen wieder erwachen oder fehlende nachgeholt werden, dass sich erwachsene Menschen in dieser Vater-Kind-Beziehung als Kind erleben und entfalten und dabei eine Kindessprache gebrauchen, kindliche und auch kitschige Bilder, Lieder, Symbole entwickeln. Und das alles gesteigert in Gemeinschaft. Und dass sie diesem Vater gehören und gehorsam sein möchten. Und dass das alles jene Umkehr zur Kindwerdung sein soll, die Jesus von jedem fordert, der in das Himmelreich hineinkommen will. (vgl. Mt 18,2)
Ich verstehe jeden, der daran Anstoß nimmt. Nach einem Jahrzehnt Missbrauchsskandal in der Kirche, vieltausendfach, haben all diese Lebensvorgänge in der Öffentlichkeit ihre Unschuld verloren. Ob wir wollen oder nicht, sie werden mit geistlichem Missbrauch in Beziehung gebracht.
Wir haben allen Grund zu hoffen, dass die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs aus der Welt geschafft werden. Aber die Aufgabe, diese geistliche Vater-Kind-Welt zu unterscheiden von geistlichem Missbrauch, ja, sie zu erschließen in ihrer epochalen Bedeutung und ihr zum Durchbruch zu verhelfen, die hat erst begonnen. Schönstattfamilie, gehst du mit?
Wohin mitgehen? Auf den Weg der Seelenstimmen
Mit der Gründung des Bundes in Hörde war eine bis heute wegweisende Entscheidung gefallen: für „seelische Kleinarbeit“. Unser Vater stellte als „Programm“ auf und erklärte feierlich den Primat des „inneren Lebens“.[4]Diesen Weg beschritt er ein Leben lang. Bei seinem Goldenen Priesterjubiläum erklärte er, er habe „zweifellos viel, unheimlich viel, … fast ausschließlich, in und aus Seelen – aus gesunden und kranken, aus hochstrebenden und gedrückten Seelen jeglichen Standes … in sich aufgenommen… Überall durfte ich … die zartesten und feinsten, aber auch die kraftvollsten und leidenschaftlichen Regungen des menschlichen Herzens – ob es sich dabei um Männer- oder Frauen- oder um Priester- oder Laienseele handelte- erlauschen und Menschengeist von Gottesgeist, Menschenwort von Gotteswort unterscheiden lernen.“ „Es handelte sich überall letzten Endes um Gottes Stimme.“ [5]
Lassen Sie mich schon einmal vorweg sagen: Das scheint mir der Ruf Gottes durch die Ereignisse der Causa Kentenich an uns zu sein – als unseren Beitrag für die gegenwärtige Kirche.
Neugründung aus dem Seelenleben[6]
Die Orientierung an den Seelenstimmen ist vollends unabdingbar für Zeiten einer Neugründung Schönstatts. Dazu schrieb unser Vater an P. Menningen (ich kürze das Zitat): „Laß Dir erzählen, wie Schönstatt … seit 1919 geworden ist. Nachdem ich durch einige Vorträge die Herzen geöffnet und eine gewisse Atmosphäre geschaffen hatte, bestand meine Haupttätigkeit darin: Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen, um den einzelnen zu helfen, ihre seelischen Probleme zu lösen, um ihnen zu dienen … bei der Lösung seelischer Komplexe, zumal der durch den Krieg hoch angeschwollenen Zwangsneurosen.“[7]
Eine Anmerkung: Dieselbe Bedeutung wie die Seelenstimmen haben die Seins- und Zeitenstimmen. Ich muss mich hier aber auf die Seelenstimmen beschränken – die anderen schwingen mit.
Meine Erfahrung: Ehrfurcht und Zuwendung
In meinem persönlichen fast zweistündigen Nachtgespräch mit unserem Vater fiel mir Folgendes auf: Da ich nichts reden konnte, musste er selber das Gespräch durch Fragen leiten. Er stellte keine indiskreten Fragen, nur solche, die man auch bei einem Glas Bier und mit Zuhörern stellen könnte: wie ich das Studium finanziere, meine Lieblingsfächer, wer für uns kocht usw. Aber sein Interesse bewirkte bei mir, dass ich nach und nach mehr und mehr und immer persönlicher zu erzählen begann und nach etwa 1 ½ Stunden endlich das aussprechen konnte, wozu ich gekommen war und was mir am Herzen lag.
Auf der einen Seite erlebte ich seine große ehrfürchtige Zurückhaltung und die Respektierung meiner Persönlichkeit und Freiheit, auf der anderen Seite sein Eingehen auf die Tiefen der Seele, wenn ich die ihm in Freiheit öffnete. Fehlte diese Ehrfurcht vor der Freiheit, hätte man es mit geistlichem Missbrauch zu tun. Keine Spur davon – nach meinem Erleben.
Auf Bedürfnisse achten
Wie geht nun dieser Weg vom äußeren zum inneren Leben, von der Oberfläche in die Tiefe der Seele? Nach einer Selbstaussage unseres Vaters hat er bei der Begegnung mit einem Menschen auf dessen Bedürfnisse[8] geachtet, aber nicht nur auf die ausgesprochenen, sondern auch auf die unausgesprochenen. Nicht nur auf die, welche dem anderen bewusst waren, sondern auch auf die unbewusst gebliebenen.[9] Der Weg der Bedürfnisse führte tiefer und tiefer. Ich erlebte mich – so unser Vater – „mit der Zeit mehr und mehr als Schatzgräber …, der aus geheimen und geheimsten tiefen Goldschächten edler Frauenseelen Edelmetall zuhauf herausholen durfte, das freilich nach mannigfachen Richtungen hin einer Reinigung und Läuterung bedurfte.“[10]
Lieben und Geliebtwerden
Um in diesem Bild zu bleiben: Beim Hinabsteigen in die Tiefen der Bedürfnisse nahm er wahr, wie sich alle Bedürfnisse sammelten in dem einen: geliebt zu sein und lieben zu können. Der Wurzelstock, aus dem alle Bedürfnisse hervorbrechen. Die unstillbare Sehnsucht nach Lieben und Geliebtwerden zeigte sich in verschiedene Gestalten: Mutterliebe, Vaterliebe, partnerschaftlich/eheliche Liebe, Geschwisterliebe, Freundesliebe und – zutiefst und ursprünglichst: Kindesliebe.
Übertragung auf Gott
Jetzt kommt eine bahnbrechende und folgenreiche Einsicht: Hier ist die Brunnenstube der Gotteserfahrung und Gottesbeziehung. Die durch und durch menschliche Grunderfahrung der Seele – gewollt, geliebt, angenommen, geborgen zu sein – kann überspringen auf Gott. Kann, muss nicht – denn das ist Gnade. Mit biblischen Worten: Hier wird das Wort Fleisch und wohnt in der Seele des Menschen.
Er erkannte: Wenn der Gottesbezug nicht aus dieser menschlichen Quelle gespeist wird, die ihn vital, emotional werden lässt und den Menschen bis in die unbewussten Seelentiefen durchdringen kann, dann bleibt Gott eine Idee ohne Erfahrung. Eine Praxis ohne Seele, die man problemlos aufgibt. Das erleben wir derzeit als Massenphänomen.
Diese Grunderfahrung ist immer auch eine Grundenttäuschung, denn sie trägt Verletzungen in sich. Wir tragen sie oft ein Leben lang mit uns. Je nach Schwere können sie krank machen. Enttäuschungen können sich aber auch in Sehnsucht wandeln. Grunderfahrung und Grundenttäuschung prägen ein Leben lang unbewusst unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Und – darauf kommt es in unserem Zusammenhang an -: sie übertragen sich auf unsere Gottesvorstellung und Gottesbeziehung.
Das innere Kind
Das entscheidende Vorgehen, damit Gott „in der Seele erwacht“, liegt demnach darin, die verschüttete, in die frühe Kindheit hineinreichende Kindesseele zu berühren, zu erschließen, frei zu setzen, verwundete zu heilen und fehlende Erfahrungen so weit möglich nachzuholen.
Genau das hat unser Vater getan: bahnbrechend.
Wie sehr da auch ein Bedürfnis gegenwärtiger Menschen berührt wird, zeigt die Tatsache, dass die Bücher von Stefanie Stahl zu diesen Fragen sich auf den Top-Rängen der Bestsellerlisten finden, millionenfach verkauft werden und die Autorin regelmäßig als Expertin für Presse und Talkshows angefragt wird. Ihr jüngstes Werk: „Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme“.
Im menschlichen Vater Gott erleben
P. Kentenich, der Jahrzehnte seine Person geradezu übertrieben in den Hintergrund gestellt hatte, stellte sich auf diese Erkenntnisse hin radikal um: Er erlaubte Gott, in ihm als väterlichen Menschen sein göttliches Vatersein und -wirken erlebbar zu machen, seelische Bindungen an seine Person wachsen zu lassen, um mit diesen Banden die Herzen von Menschen an sich, den göttlichen Vater, zu ziehen.[11]
Und, weiter: Unser Vater erlaubte Menschen, ihre aufbrechenden Kindesbedürfnisse zu entfalten, zu äußern, in vielfältigen Formen zum Ausdruck zu bringen. Im Vertrauen, dass auch in Unreifem, Übertriebenem sich echtes Gold verbarg, was es zu läutern galt.
Er beschloss, seine Seelenwerkstatt zu öffnen
Lassen Sie mich einmal ganz unerleuchtet menschlich sprechen: Das alles wurde Pater Kentenich zum Verhängnis. Damit bot er Angriffsflächen, um missverstanden, angreifbar, verdächtigt, untragbar zu werden. Bis heute!
Das hat er sehenden Auges auf sich genommen. Aus Liebe zu Gott: um ihm einen Weg in die Seele des Menschen zu öffnen.
Aus Liebe zum heutigen Menschen: um ihm einen Weg zu Gott zu zeigen, wie ihn das menschliche Herz sucht.
Aus Liebe zur Kirche: um für sie eine Evangelisierung entsprechend einer Pädagogik und Psychologie für den heutigen Menschen zu entwickeln.
Dafür machte er das denkbar Unklugste: Er beschloss, seine „Seelenwerkstatt“ allen für die Seelsorge Verantwortlichen zu öffnen, – mit seinen eigenen Worten: – „alle Karten, ohne Ausnahme, aufzudecken“ (Apologia 046). , ja, „mit rücksichtsloser Offenheit vor die Gesamtöffentlichkeit der Kirche zu treten“ (009) Tragischerweise erreichte er mit seinen Darlegungen nur wenige Amtspersonen, denen seine langen Abhandlungen zu viel wurden. Die von ihm gewünschte Öffentlichkeit hat ihm erst jetzt Frau von Teuffenbach verschafft, und das tatsächlich „mit rücksichtsloser Offenheit.“
II KIRCHENKRISE
Wie reagieren wir darauf im Sinne unseres Vaters? Ich wiederhole: Was angegriffen wird, zu unserer Aufgabe machen! Das ist der Weg des seelischen Lebens. Die Orientierung an den Seelenstimmen. Setzen wir seinen Weg fort! Und das hinein in die Öffentlichkeit der Kirche!
Was bewegt unsere Kirche in Deutschland? Die Kirchenentwicklung in den Diözesen. Der synodale Weg.
Primat der seelischen Bedürfnisse
So umfassend sind diese Fragen, dass ich nur ein einziges tun will: mich dafür stark machen, dass wir den Primat des seelischen Lebens unseres Vaters uns erneut zu eigen machen.
Am einfachsten und uns allen möglich scheint mir zu lernen, auf die seelischen Bedürfnisse der Menschen zu achten. Alle weiteren Schritte unseres Vaters hinein in die Seelen der Menschen sind höchst anspruchsvoll, überfordern uns. Aber das Suchen nach den seelischen Bedürfnissen ist auch das Erste, was unser Vater in seiner vermutlich präzisesten, für mich eindrucksvollsten Weise in seiner Selbstzeichnung nennt: Sein „Einfühlungsvermögen … mit dem er „alle Regungen und Wünsche im Gegenüber – die bewusst gewordenen und die unbewusst gebliebenen, die guten und die schlechten – in sich“ aufsog.[12]
Die Psychologie spricht da von den „sozialen Grundbedürfnissen“ wie: angenommen sein, geachtet sein, dazugehören, mitgestalten. Die Soziologie spricht neuerdings von „Resonanzverhalten“. Schlägt man eine Stimmgabel an, so schwingt alles im Raum mit, was dieselbe Wellenlänge hat. Nach dem Soziologen Hartmut Rosa ist die wechselseitige Resonanzfähigkeit der entscheidende Punkt, ob unsere moderne Kultur das Leben verstummen lässt oder zum Klingen bringt. Für uns geht es um mütterliche, väterliche, geschwisterliche, partnerschaftliche und freundschaftliche Resonanz. Wo die Seelen sich aufeinander einschwingen und miteinander schwingen, da ist der lebendige Gott präsent.
Wo diese Grundbedürfnisse durch Resonanz kontinuierlich beantwortet werden, da wachsen Bindungen.
Jetzt im Einzelnen:
Kirchenentwicklung
Die Kirchenentwicklungen in den deutschen Diözesen mit den Großpfarreien können zwar gewährleisten, dass getauft, Ehen kirchlich geschlossen und Tote christlich begraben werden, dass man weiß, in welche Kirche man am Sonntag fahren kann, über welche Internetadresse man einen Pfarrer, eine Referentin erreichen kann. Aber würde man nur auf diese Ebene achten, sie sogar perfektionieren, würde diese Kirchenentwicklung zugleich die Glaubensauflösung beschleunigen.
Die Kirche hat ihre Bindekraft verloren, stellte dieser Tage ein Kirchenmann fest. Denn die seelischen Bedürfnisse, aus denen Bindungen hervorgehen, können in einer Großraumpfarrei von wenigen Hauptamtlichen nicht erfüllt werden. Die Menschen wollen namentlich gekannt sein, begleitet sein, suchen jemand, der für sie Zeit hat, an ihrem Schicksal Anteil nimmt. Beispiel: Kommt eine Mutter zum Pfarrhaus, freut sich darauf, dem Pfarrer, der sie getraut hat, ihr Neugeborenes vorzustellen und hat auch schon einen Wunschtermin für die Taufe, natürlich in der Kirche, in der sie geheiratet haben. Die Sekretärin: Der Pfarrer ist heute in einer anderen Gemeinde, die Tauftermine liegen schon für das ganze Jahr fest, auch, in welcher Kirche. Und welcher Pfarrer oder Diakon da tauft, kann ich Ihnen noch nicht sagen. Da werden alle seelischen Anknüpfungspunkte abgeschnitten. So ist die Realität.
Da nicht mehr in jeder Dorf- aber auch Stadtkirche eine Sonntagsmesse sein kann, wählt man Mittelpunktskirchen. Oft wird dabei nur gefragt: Welche Kirche ist verkehrstechnisch für die meisten erreichbar? Die Leute finden ja auch den Weg zum nächsten Supermarkt. Das ist seelenvernachlässigend und seelenschädlich. Kirchen sind nicht einfach austauschbar. Da reichen noch einige Wurzeln von Menschen in Gott hinein. Die darf man nicht ausreißen. Wie bleiben Kirchen eine geistliche Heimat, auch wenn nur selten darin die Eucharistie gefeiert werden kann?
Unser Vater und Gründer hat unsere Bewegung aus kleinen Organismen wie Gruppen und Kursen entstehen lassen. Er hat sie aus den seelischen Bedürfnissen herauswachsen lassen. Wo die lebenslange Suche der Tiefenseele nach Vater-, Mutter-, Kind- und Geschwistererfahrungen, nach Orts- und Heimaterfahrungen in einem familienhaften Miteinander ihre Antwort findet.
Sein Bild: In einem großen Baum finden Vögel eine Heimat, wenn sie darin ihr Nest haben. Die Makroebene der Großpfarreien braucht die Mikroebene von kleinen Gemeinschaften.
Doch als Korrelativ zum Familienbedürfnis nahm Pater Kentenich beim modernen Menschen das starke Bedürfnis nach Eigenverantwortung wahr und vor allem nach Freiheit. Das erforderte neue Gemeinschaftstypen, die es so in der Kirche noch nicht gab. Der Bund entsprach dem damaligen Seelenbedürfnis. Als man P. Kentenich sagte: Verbände, so etwas gebe es im Kirchenrecht nicht, war seine Antwort: Dann muss das Kirchenrecht umgepflügt werden!
Solche Vorgänge stehen an Stelle unserer sich auflösenden Territorialpfarreien an. Wir müssen nicht klagen über das, was vergeht. Seien wir gespannt, welche neuen Gemeindeformen Gott aus dem Seelenleben von Menschen hervorgehen lässt. Nehmen wir es wahr, und fördern wir es!
Synodaler Weg
Mir wurde die Aufgabe gestellt, in diesem Referat etwas zu sagen über die derzeit unsere deutsche Kirche umtreibenden Fragen und wie wir als Schönstätter dazu stehen und damit umgehen können. Schönstatt für die Kirche – das heißt: Mitverantwortung übernehmen!
Ich will vorausschicken: Ich werde hier kein Urteil abgeben über die umstrittenen Fragen. Noch weniger will ich Sie da beeinflussen. Am wenigsten brauchen Sie zu versuchen, aus meinen Worten herauszuhören, was der Bischof von Fulda darüber denkt.
Auf dem Synodalen Weg prallen die längst bestehenden Gegensätze aufeinander und scheinen unüberwindlich. Welche „Prinzipien“ unseres Vaters könnten da hilfreich sein? Man könnte die „Fronten“ in unserer Kirche mit dem Modell der Dreieinheit von Seins-, Zeiten- und Seelenstimmen so bewerten: Wer nur die Zeitenstimmen beachtet, ohne Gottes Stimme herauszuhören, der gerät ins Schlepptau des Zeitgeistes. Wer nur die Seinsstimmen gelten lässt, wird dem Leben nicht gerecht. Das könnte unsere Beiträge kennzeichnen: Die Ausgewogenheit dieser drei Stimmen und in jeder Gottes Stimme zu hören. Und die Seelenstimmen ins Spiel zu bringen.
Dass ich zu Themen, die einen ganzen Synodalen Weg beschäftigen, nicht mehr als ein paar Andeutungen machen kann, versteht sich von selbst. Und das auch nur zu einer einzigen Frage: Gibt es Berührungspunkte zwischen dem, was derzeit bei P. Kentenich umstritten und was beim Synodalen Weg umstritten ist? Wir gehen entsprechend der vier Synodalforen vor.
· Synodalforum: “Macht und Gewaltenteilung – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag”
Vor fast 40 Jahren vertrat P. Kentenich eine „sinngemäße organisatorisch-juristische starke Machteinschränkung oder Entmachtung, verbunden mit außergewöhnlich reicher lebensmäßiger Machtfülle“ und nannte dies das „Grund- und Baugesetz“ Schönstatts schlechthin.“ Was können wir davon einbringen in den Synodalen Weg? Und wenn er dazu anmerkt: „Hauptaugenmerk und Hauptsorge galt immer dem durchflutenden machtvollen Strom“, dann ist vor allem das strömende seelische Leben in Gemeinschaft das Wesentliche.
Dass die Instruktion aus Rom[13] auf so großen Widerstand stieß, hängt damit zusammen, dass die Laien durchweg aus der Perspektive der Priester gesehen werden, sogar als deren mögliche Konkurrenten, statt von ihrer eigenen Taufberufung her. Da sind wir besonders angesprochen als Laienbewegung. Unser Vater hat eine spezifische Laienspiritualität entwickelt, abgelesen und Zug um Zug entfaltet aus den in den Seelen entdeckten Charismen und Berufungen. Diesem Leben verhalf er zu verbindlichen Formen in einer Laiensoziologie und schließlich einem mit Rom errungenen Laienrecht.
· Synodalforum: “Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft”
Es geht um das Ernstnehmen des seelischen Lebens, insbesondere des unbewussten und auch des geschlechtlichen Lebens und des fremden, gesunden wie kranken, Seelenlebens. Also um das, dem sich unser Vater ein Leben lang gewidmet hat. Das Entscheidende dabei ist, diese Seelenstimmen als Gottesstimmen zu hören, also uns zu fragen, was Gott uns damit sagen, welche Wünsche er uns mitteilen will.
Das Bedürfnis in allen Bedürfnissen, die tiefste Sehnsucht jedes Menschenherzens sah unser Vater in dem Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden. Eine elementare Ausdrucksform ist die geschlechtliche Liebe, nach den Worten unseres Vaters der Körpertrieb, Seelentrieb und Trieb zum Kind. Wir sind uns einig, dass dieser Trieb seine eigentliche natürliche Erfüllung findet in der Ehe von Mann und Frau. So weit gut.
Aber diese Liebeskraft ist genauso in Menschen wirksam, die geschieden sind, noch nicht verheiratet, die eine Person des eigenen Geschlechtes lieben. Ich meine, da sei unsere Art nach der Art unseres Vaters: den betroffenen Menschen zuzuhören, Ehrfurcht zu haben vor ihrer Weise zu lieben. Ja, darüber hinaus: auch in diesen Seelenstimmen die Stimme Gottes zu hören.
Vermutlich sagen Sie: Aber ich kann das nicht gutheißen! Müssen Sie auch nicht. Es genügt, nach dem Bild unseres Vaters: nach dem „Gold“ zu suchen, mit seinen Worten: „Sie werden wohl keinen Menschen finden und entdecken, … in dem nicht ein ganzer Barren von Edelsteinen sitzt. Ich muss das natürlich erst entdecken und erkennen. Natürlich, Sie werden auch niemanden finden, wo dieser Edelstein nicht mit überaus viel Schmutz und Stein, Gestein jeglicher Art, … durchsetzt ist.“[14]
Aber es ist gegen die Lehre der Kirche! Überlassen wir dieses Problem den Theologen. Schönstatts Sendung ist, die Verbindung[15] herzustellen zwischen Wissenschaft und Leben, also den theologischen -, aber auch den Humanwissenschaften. Unser Spezifikum: Wie ist das Liebesvermögen lebbar und entfaltbar in der Seele ausnahmslos eines jeden Menschen? Wie kann dessen ureigene Liebe zur Brücke in die Liebe Gottes werden?
Ich glaube, auf diese Weise sind wir auf dem Weg unseres Vaters und müssen uns nicht untereinander polarisieren und von Schönstatt aus nicht Teil der Polarisierung in der Synode sein.
· Synodalforum: “Priesterliche Existenz heute”
Verheiratete als Priester? Hören wir wieder auf die Seelenstimmen. Die vielen Seelenstimmen junger Männer, die alle Voraussetzungen hätten zum Priesterwerden, darin auch ihre Berufung erkennen könnten, aber sie sehen klar, dass sie zur Ehe bestimmt sind. Es geht mir nur um das eine: Das Ernstnehmen dieser Seelenstimmen und das Fragen, was uns dadurch Gott sagen möchte.
Ich muss Ihnen sagen: Wenn ich das an die Schmerzgrenze gehende Ringen des seligen Karl Leisner um Priestertum oder Ehe lese, habe ich immer den Eindruck: Da erlebt einer intensiv eine tiefe doppelte Berufung : die zum Priestertum und die zur Ehe. Musste er vielleicht zwangsläufig die eine Berufung opfern um der anderen willen?
Gott spricht eben nicht nur durch die massiv rückläufigen Zahlen der Priester. Viel mehr noch ist hinzuhören: Wohin geht der Ruf in den Seelen von Suchenden?
· Synodalforum: “Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche”
Im Fuldaer Bischofshaus steht ein Korb voller zerbrochener Dachziegeln. Frauen von Maria 2.0 haben sie beschriftet und der Bischofskonferenz überreicht. Ich habe sie gelesen in der Vermutung, dass sie vollgeschrieben sind mit Forderungen nach der Priesterweihe. Keineswegs. Das durchgängige Thema ist, wie sie von Priestern behandelt werden. Z.B. „Unsere Hingabe an Gott und unsere Sorge um den Nächsten werden für klerikale Zwecke ausgenutzt. Was lassen wir uns gefallen um der Sache Jesu willen?“ „Empathie fehlt.“ Seelenstimmen!
Dass Frauen in Leitungsfunktionen der Kirche gehören vom Vatikan bis in die Ordinariate, diese Sicht hat sich durchgesetzt. Nur die Umsetzung steht erst am Anfang. An diesem Ort hat ja Bischof Gerber beim Hördejubiläum darauf hingewiesen, wie weitgehend in der Schönstattbewegung Frauen Leitung wahrnehmen, und das nicht als Mitarbeiterinnen und Delegierte von Priestern oder gar abhängig von diesen. Deshalb müssten wir mitbedenken, dass andere mit anderen Vorerfahrungen zu anderen Schlüssen kommen.
Wie aber ist es mit dem Priesterlichen? Steigen wir mit unserem Vater auch hier in die Seelentiefen „edler Frauen“ hinab. Da gibt es in Frauen den starken Zug zum Priestersein. Es fällt mir auf, wie viele Frauen berichten, dass in ihnen als Kind, Ministrantin, Jugendliche der Wunsch da war, Priesterin zu werden. Aber sie bekamen ein „nein“ zu hören. Warum nicht?: „weil du ein Mädchen bist!“. Eine Enttäuschung, ja eine Verletzung, die nachwirkt.
Den seelischen Zug zum Priesterlichen hat unser Vater gefördert. Es gibt Frauenkurse in unserer Bewegung, zu deren Ideal das Priesterliche gehört. Es gab im Gefolge der Mariengartenströmung und als deren Weiterführung von unserem Vater gewollt die Diakoninnenströmung.
Gewiss, daraus wurde nie die Tendenz oder gar die Forderung nach dem amtlichen Diakonat oder zum Priestertum. Es blieb ganz auf der spirituellen Ebene. Es gibt ja die Taufberufung zur Teilnahme am Priestertum Christi für jede Getaufte.
Das hat sich geändert und bricht sich mächtig Bahnen. Ich lege hier kein Wort ein für den Zugang zum Priestertum für Frauen. Aber umso mehr dafür, diese mächtigen Seelenstimmen zu hören und darin auch das Sprechen des Heiligen Geistes mitzuhören.
Dass da auch schräge Töne und fragliche Motive hörbar werden, hat unser Vater für selbstverständlich gehalten auch in seinem Umgang mit Frauen. Starkes Leben reißt auch einmal Dämme nieder.
Fragen wir mit dem Synodalen Weg geduldig, was Gottes Geist uns da sagen will:
– Geht es um die Neuentdeckung des geistlichen Priestertums aller Getauften und das auch in ausgeprägt fraulicher Weise?
– Oder lässt der Heilige Geist , ein anderes, von Frauen entwickeltes und geprägtes „Frauenamt“ entstehen? Alternativ zu dem über zwei Jahrtausende männlich geprägten Amtspriestertum? In diese Richtung hat Papst Franziskus gewiesen, als er im Dokument zur Amazonassynode vom „Entstehen anderer spezifisch weiblicher Dienste und Charismen“ schrieb.[16]
Es geht mir nur um das Eine: Gott wirkt in den Tiefen der Seele und dort zeigt er seine Wünsche und bereitet Neues für die Zukunft vor.
Wir setzen den Weg unseres Vaters fort. Aber nicht im Anschluss an ihn, sondern mit ihm. Sein Weg ist unser Weg. Unser Weg ist sein Weg. Das kann uns eine intensivere seelische Nähe zu ihm und zueinander schenken. Ein Mitbruder ist stark davon bewegt. Er schrieb mir – und mit seinen Worten möchte ich schließen:
Es ist die Zeit, in eine neue Herzensgemeinschaft mit unserem Vater und Gründer einzutreten.
Vater, mein Herz in Deinem Herzen!
Vater, Dein Herz in meinem Herzen!
Das Herz des Vaters schlägt in meinem Herzen.
Ich höre auf die Stimme des Herzens und bringe sie ins Wort.
Meine Herzworte bringe ich ins Spiel – in meinem Leben, in meiner Gemeinschaft, in meinen Beziehungen, in der Kirche.
[1] Vgl. Exerzitien des Jungen Priesterverbandes in Würzburg 1966. 25. 11. 1966. 1. Vortrag S. 273 – 282
[2] „Sie müssen das darum für selbstverständlich auffassen, müssen wohl auch erwarten, vielleicht morgen, übermorgen noch nicht, jedenfalls tue ich persönlich alles, um in der kirchlichen Öffentlichkeit nicht wie früher des öfteren einen Streit, einen Feuerbrand des Streites zu entzünden. Kommt aber einmal, jetzt noch nicht. Jetzt müssen wir schauen, dass wir geeint werden, geschlossener werden… Erst müssen wir eine Macht darstellen, dann ist der Augenblick da, uns vorzuwagen, auf die Kampfesbühne zu steigen, um von dort aus auch eine Auseinandersetzung mit der Kirche heraufzubeschwören… müssen erst selber gefestigt sein, geschlossen sein, dass keine Macht der Welt, aber auch keine Macht der Hölle uns auseinanderreißen kann…. Uns vorbereiten, einen Turm darstellen, uneinnehmbaren Turm für die nicht geringen Auseinandersetzungen, mit denen wir halt rechnen dürfen und rechnen müssen.“ (Aus der Ansprache zur Kursweihe des Pilgerkurses am 17. 08. 1968)
[3] Die Tagespost vom 14. 10. 2020
[4] Wir stellen „ein Programm auf, das einer feierlichen Schilderhebung des inneren Lebens gleichkommt.“ Brief vom 08. 11. 1919, veröffentlicht als letzter Text in „Unter dem Schutze Mariens“
[5] ,,Zum Goldenen Priesterjubiläum”, Berg Sion 1985, S. 134f
[6] „den Blick ständig hineingesenkt zu halten in das Seelenleben der Gefolgschaft“. „Will man aus den Seelen Gottes Wunsch und Willen herauslesen, so muss man ständig sorgfältig damit Fühlung halten, muss verstehen, die Seelen aufzuschließen, darinnen zu lesen und das Gelesene langsam in die Gesamtfamilie hinüberleiten.“ Brief an P. Menningen zu Fragen der Neugründung vom 9. 12. 1953
[7] Brief vom 9. Dezember 1953 aus Milwaukee
[8] P. Kentenich wörtlich: „alle Regungen und Wünsche“
[9] Apologia pro vita mea, Milwaukee 1960 S. 90 (099)
[10] Apologia pro vita mea, Milwaukee 1960, S. 105 (117)
[11] vgl. Hos 11,4: „Mit menschlichen Fesseln zog ich sie, mit Banden der Liebe.“
[12] nochmals Apologia (099)
[13] Instruktion der Kongregation für den Klerus: Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche. 29. 06. 2020
[14] Vortrag vom 20. April 1963 an einen Kurs der Schönstattpatres. Zitiert in: King, Durchblick in Texten Bd 3 „In Gemeinschaft seelisch verbunden, Seite 52 bis 63
[15] P. Kentenich spricht vom „Verbindungsoffizier“
[16] Querida Amazonia Nr. 102